Gedanken zum Wochenende

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Das Wunder auf dem Rasen

Über himmlische Gefühle im Fussball

Von Pfarrer Christoph Rätz. Ev. Kirchengemeinde Ludwigsfelde und Glienick

Es war einfach der Tag für den vierten Stern. Vor genau zehn Jahren gewann die deutsche Fußballnationalmannschaft der Herren die Weltmeisterschaft in Brasilien. Der vierte WM-Titel nach 1954, 1974 und 1990. Seitdem tragen sie vier Sterne, die deutschen Trikots, einen für jeden Sieg. Ein himmlisches Symbol für ein himmlisches Gefühl.

Überhaupt scheint Fußball nicht von dieser Welt zu sein. Große Spieler werden wie Götter verehrt. Ihre Anhänger ziehen in langen Prozessionen zu den Stadien, singen Hymnen und feiern gemeinsame Rituale. Auf ihrer Kleidung tragen sie die Namen der Fußballgötter, in der Hoffnung, dass sich etwas von deren magischem Können auf sie überträgt. Mancherorts wird nach gewonnenen Pokalspielen ein Stück vom Rasen aus dem Stadion geklaut – als Reliquie für den heimischen Balkon. Das Wissen der Eingeweihten wird von Generation zu Generation weitergegeben. Viele Kinder kennen die Namen von Kroos, Ronaldo und Mbappé lange bevor sie schreiben können. Und wie ein starkes Unwetter vermag das Endspiel einer Meisterschaft die Straßen in den Städten leer zu fegen. Fußball, eine Kraft wie nicht von dieser Welt.

Die etablierten Religionen haben sich lange schwer getan mit dem Rasensport. Es war umstritten, das Fußballspielen am Sonntag zu erlauben – ein Tag, der traditionell dem Gottesdienst, der Kirche und der Religion vorbehalten war. Der Sport unter freiem Himmel, das vermeintlich kopflose Gegeneinander auf dem Platz, das sei nichts für den Tag des Herrn. Was damals niemand so offen zugeben wollte: Die Kirchen fühlten sich auch bedroht. Sie erkannten die Konkurrenz – nicht nur um die freie Sonntagszeit der Menschen, sondern auch um deren Herzen. Denn im Fußball bekomme ich eine ganze Menge von dem geliefert, wofür in früheren Zeiten die Religion zuständig war. Heiligenverehrung, Zugehörigkeit, rauschende Ekstase. Im Stadion kann ich Wunder erleben, überschäumende Glücksgefühle oder tiefstürzende Traurigkeit. Ich kann erfahren: Bis zuletzt ist Rettung möglich.

Ein flinker Fuß, ein harter Kopf, ein Schiedsrichterpfiff reichen zur Erlösung. Mit tausend anderen singe ich vertraute Lieder, trage die gleichen Farben, lege mein fußballerisches Bekenntnis ab. Ich gehe auf in einem großen Zusammenhang, der mich selbst übersteigt. Gar nicht so leicht, all das auch sonntags in der Kirche zu erleben. Fußball – vielleicht die bessere Religion?

„Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, schrieb Martin Luther. Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt und beherrscht. Das kann im Laufe eines Lebens sehr unterschiedlich sein. Gute Kandidaten für solche ‚Götter‘ sind meist Geld, Macht und Ruhm, aber auch die eigene Gesundheit, der Erfolg im Beruf oder die Sehnsucht nach Liebesglück. Und nicht zuletzt der Sport.

Vielleicht muss man es nicht ganz so streng sehen. Menschen sind komplexe Wesen und lassen sich schwer auf einen Begriff bringen. Wahrscheinlich wohnen in den meisten Herzen mehrere Götter. An diesem Wochenende, an dem die Erinnerung an den vierten Stern vor zehn Jahren und das EM-Finale anstehen, schlägt das Fußballherz sicher etwas stärker als sonst. Ich selbst werde trotzdem Zeit finden, in die Kirche zu gehen. Für mich werden dort die großen Lebensfragen immer noch am besten behandelt. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wohin mit meiner Schuld oder meiner Sehnsucht nach Frieden? Fragen, die alte Symbole brauchen und die Erdung in meiner Tradition.

Daneben aber wird, na klar, die Vorfreude auf das Spiel stehen – das Spiel zwischen einer Mannschaft, der lange nichts zugetraut wurde und die sich davon nicht hat beirren lassen, und ihren Gegnern, die – auch ohne glückliches Händchen – himmlischen Fußball spielen.