Gedanken zum Wochenende

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Die Spuren des Lebens

„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ heißt es im Johannes-Evangelium.

Von Anita Kern, Senior:innen-Arbeit in den Kirchengemeinden Zossen und Jüterbog

In der Küche um den runden Tisch sitzen sie und plaudern. Es ist Erntezeit. Leckere Früchte aus dem Garten liegen in einer Schale. Jeder nimmt sich ein paar Beeren oder Pflaumen und steckt sie sich in den Mund. Manche, die zuhören, genießen sichtlich die Früchte. Andere, die sich gerade unterhalten, stecken sie eher nebenbei in den Mund. In der Mitte steht auf dem Tisch eine brennende Kerze. Es ist eine fröhliche Runde.

Mitten im Krieg geboren, wächst das Mädchen mit ihrem Bruder in Berlin auf. Als es zu gefährlich wird, entscheidet die Mutter ihre beiden Kinder aufs Land zu schicken, fernab vom Fliegeralarm und von zu großer Lebensknappheit in der Stadt. Aber auch auf dem Land bleiben sie nicht verschont. Die Zeiten, in denen sie im Keller mit vielen anderen Menschen ausharren mussten, die Zeiten, in denen sie Gebäude haben abbrennen sehen, diese Zeiten, in denen sie noch so viel mehr Unheimliches und Furchteinflößendes erlebt haben, haben sich tief in die Kinderseele eingebrannt.

In dieser Zeit hat sie bereits gelernt, was es bedeutet, für das Leben zu kämpfen.

In der Schule ist das Mädchen eine gute Schülerin, wenn auch schwatzhaft, wie im Zeugnis zu lesen ist. Sie liebt den Umgang mit den Menschen und den Zahlen. Der Lehrer sieht es anders. Sie sei gut für die Heimarbeit. Abitur sei nichts für Mädchen. Sie setzt sich durch und geht ihren eigenen Weg. Sie macht zuerst eine Lehre und studiert dann. Sie wird Lehrerin, genau ihre Leidenshaft: Menschen und Zahlen. Kämpfen für das Leben, das hat sie gelernt.

Sie lernt ihren zweiten Mann kennen. Sie wünschen sich Kinder. Der Nachwuchs lässt auf sich warten. Schließlich adoptieren sie zwei Kinder. Sie lieben ihre Kinder. Das Mädchen, das nun längst zur Frau geworden ist, ist leidenschaftliche Mutter. Man wünscht sich immer für die Kinder das größte Glück. Aber das Leben lehrt uns, dass die Wege nicht immer gerade sind und ihre Hürden haben. Auch ihre Kinder stehen vor so einigen Hürden. Der Schulabschluss fehlt. Die Ausbildung wird abgebrochen. Die Mutter redet mit den Lehrern. Sie schreibt Briefe. Sie sucht mit ihnen verschiedene Ärzte auf. Mit den Kindern zusammen sucht sie immer einen Weg, den sie gehen können. Kämpfen für das Leben.

Eines Tages erhält sie die Diagnose Krebs. Die Ärzte sagen ihr, wie die Behandlung in ihren Augen abzulaufen hat. Sie wehrt sich und trifft ihre eigene Entscheidung. Sie schafft es, am Ende hat sie den Krebs besiegt. Sie liebt das Leben. Sie lacht. Sie ist fröhlich. Sie ist gutmütig und großzügig.

Jahre später erhält sie wieder die gleiche Diagnose. Sie hat gelernt zu kämpfen ihr Leben lang. Sie weiß, dass sie es schafft. Sie schafft es in der Tat. Zweiter Krebs besiegt. Einige Jahre später trifft es sie erneut. Diesmal besiegt sie ihn nicht. Sie hat es dennoch geschafft. Geschafft immer wieder für das Leben, für das eigene und das Leben um sie herum, einzutreten.

Das Leben hinterlässt Spuren. Aber auch umgekehrt: Wir hinterlassen Spuren im Leben.

In der Küche um den runden Tisch sitzen sie und plaudern. Es ist Erntezeit. In der Mitte steht auf dem Tisch eine brennende Kerze. Das Licht flackert trotzig in die Welt. Es ist eine fröhliche und dankbare Runde.