Gedanken zum Wochenende
Von der Kunst zu leben
Von Superintendentin Dr. Katrin Rudolph, Ev. Kirchenkreis Zossen-Fläming
Ewigkeitssonntag. Es ist Zeit für den Friedhof. Ich werde eine Kerze mitnehmen aus dem Gottesdienst, in dem der Verstorbenen gedacht wird. Es bleibt nicht aus – in die Trauer über den Menschen, der da begraben liegt, schleicht sich auch eine Wehmut, vielleicht ein bisschen Selbstmitleid, jedenfalls die Erkenntnis, dass es auch mit mir einmal aus sein wird.
Es ist eine Erkenntnis, der ich lieber aus dem Weg gehen möchte. Ohne sie scheint es sich meistens besser zu leben. Aber am Ewigkeitssonntag habe ich sie im Ohr, die Bachkantate: „Ach Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Worte, die eigentlich aus einem Psalm stammen, meisterhaft schön vertont von Johann Sebastian Bach.
Was für eine Klugheit lässt sich wohl gewinnen aus der Einsicht in die eigene Endlichkeit? Manchmal hat man in diesen Tagen den Eindruck, dass Menschen vor lauter Angst, dass ihnen die Welt entgleitet, eher wild um sich schlagen. Angst ist kein guter Ratgeber und schon gar kein guter Lehrer. Wie dumm, dass es für alles im Leben inzwischen Coaching-Angebote gibt, aber kaum fürs Sterben. Interessanterweise war das im Mittelalter noch anders. Die Ars moriendi, die „Kunst des Sterbens“, scheint damals attraktiver gewesen zu sein als die „Ars vivendi“, die „Kunst zu leben“, die sich heute in unzähligen Ratgebern gut verkaufen lässt. Und doch war das Eine vielleicht vor allem Hilfe zum Anderen, sozusagen nur mit Umweg.
„Getröstet sterben können“ ist ein Bild, das ich vor allem mit der Hospizarbeit oder der Palliativarbeit verbinde. Dort, wo Menschen an ihrem Ende im Mittelpunkt stehen, wo sie nicht mehr funktionieren müssen, sondern gewürdigt werden, wo die Schmerzen gemildert oder gar genommen werden. Was für eine schöne Atmosphäre zum Beispiel das Luckenwalder Hospiz hat. Wer keine Angst vor dem hat, was ihn auf der anderen Seite erwartet und schon jetzt Erlösung findet von dem, was bisher noch an Erwartungen oder Schmerzen auf ihm lag, mag „getröstet sterben“.
Aber die „Kunst des Sterbens“ wird auch zur „Kunst des Lebens“, wenn sie den Moment, der jetzt ist, wertvoll macht. Der Liedermacher Gerhard Schöne hat das 1992 in einer Art modernem Psalm neu vertont: „Irgendwann siehst du zum letzten Mal Schnee./Irgendwann trinkst du den letzten Kaffee,/streichelst den Hund, tanzt durch den Saal,/alles, alles gibt's ein letztes Mal.// Irgendwann schmeckst du zum letzten Mal Brot,/schwimmst du im See und betrachtest ein Boot,/winkst einem Kind, gehst durch ein Tal,/ alles, alles gibt's ein letztes Mal.// Irgendwann hörst du die letzte Musik,/wirst du umarmt und erhaschst einen Blick,/liest einen Brief, schreibst eine Zahl,/alles, alles gibt's ein letztes Mal.// Irgendwann heißt, es kann morgen geschehn/und dass wir uns heut' das letzte Mal sehn./Drum, was du erlebst, erleb' es total,/denn alles, alles gibt's ein letztes Mal./Alles, alles gibt's ein letztes Mal.“
Das Gefühl der Wehmut bleibt, aber statt Selbstmitleid gesellt sich Dankbarkeit dazu. Wie viel habe ich erlebt, wie viel wurde mir geschenkt, wie schön ist die Musik der Bach-Kantate, die ich gerade höre, wie verständnisvoll der Blick, den ich über den Grabstein hinweg erhasche – von jemand anderem, der auch in Abschied und Trauer mehr über das Leben gelernt hat. Danke, dass ich das erleben darf!